Ahimsa

Ahimsa

Ich bin doch nicht gewaltvoll!

Seit vielen Jahren habe ich einen Lehrer, der mich in Pranayama, der Atemtechnik im Yoga, in Meditation und Yoga-Philosophie unterrichtet. Dieser Lehrer kommt jedes Jahr für einige Monate aus Indien nach Deutschland, um hier seine Schüler zu unterrichten. Und so nahm auch ich regelmäßig an seinen Schweigeretreats teil. Die Retreats folgten immer dem gleichen Ablauf, was es uns Schüler leichter machte:

Pranayama und Meditation am Morgen, danach Frühstück. Nach dem Frühstück Unterricht sowie Pranayama und Meditation, danach Mittagessen und Karma-Yoga. Es folgte eine lange Mittagspause mit Zeit zur Reflektion. Danach wieder Unterricht bis zum Abendessen und nach dem Abendessen ging es noch einmal zu Pranayama und Meditation.

Wir Schüler schwiegen die gesamte Zeit. Für Notfälle gab es einen großen Block, wo jeder dringende Anliegen notieren konnte, die dann im Unterricht erläutert wurden. Und – je nach dem wie weit die Gruppe in ihrer Entwicklung war – gab es ein bis zwei Frage-Antwort-Runden.

Bei einem der Retreats zum Thema Patanjali Yogasutra hatte unser Lehrer ausführlich über die yamas – die Disziplinen im zwischenmenschlichen Verhalten gesprochen. Eine dieser Disziplinen ist ahimsa – die Gewaltlosigkeit oder das Nicht-Verletzen.

In der Frage-Antwort-Runde meldete sich eine Teilnehmerin mit einem Anliegen zu ahimsa zu Wort und bat unseren Lehrer um Rat. Die Teilnehmerin berichtete, dass sie zusammen mit ihrem Mann einen großen Freundeskreis hat. Zudem hat jeder von ihnen auch noch „eigene“ Freunde. Gern luden sie die Freunde zu sich nach Hause ein. Ein Freund ihres Mannes allerdings habe eine Ehefrau, mit der die Teilnehmerin gar nicht zurecht kam. Sie habe „etwas Komisches“ an sich, was sich irgendwie nicht in Worte fassen lies, so dass die Teilnehmerin es auch nicht direkt ansprechen könne. Also mache sie immer „gute Miene zum bösen Spiel“, um letztlich auch ihren Mann nicht zu kränken. Aber wohl fühle sie sich dabei überhaupt nicht. Bevor das Treffen mit diesem Paar überhaupt angefangen habe, sehne sie auch schon das Ende herbei. Und wenn die Freunde dann endlich wieder weg sind, könnte sie vor Erleichterung und Freude auf dem Tisch tanzen.

„Bin ich gewaltvoll, wenn ich so denke?“ wollte die Teilnehmerin wissen. „Und wie weit muss ich gehen? Wie weit muss ich mich einschränken oder zurücknehmen, um nicht gewaltvoll zu sein?“

Unser Lehrer sagte nur einen Satz. Aber dieser Satz hatte es in sich, so dass ich ihn heute, nach vielen Jahren noch wortwörtlich wiedergeben kann:

„Ahimsa meint Gewaltlosigkeit, andere nicht verletzten und bedeutet gleichzeitig, sich nicht den Löwen zum Fraß vorzuwerfen.“

Mit diesem Satz entließ uns unser Lehrer in die Mittagspause, aber nicht ohne uns vorher eine Aufgabe zur Reflektion zu geben.

„Wenn Ihr Eure Gedanken nicht bändigen könnt, dann nutzt sie wenigstens, um über etwas Sinnvolles nachzudenken. Denkt darüber nach, wie gewaltvoll Ihr seid. Wann übt ihr Gewalt aus? Wann verletzt Ihr?“

„Wie bitte?“ dachte ich. „Das meint er doch nicht ernst.“ Aber ich konnte es nicht mehr prüfen, denn er hatte bereits den Raum verlassen.

Ich war sauer, und zwar sehr. Gewaltvoll – pah… Da brauche ich gar nicht nachdenken. Ich übe keine Gewalt aus. Niemals. So schimpfte ich in Gedanke vor mich hin. Nach dem Mittagessen suchte ich mir einen stabilen Besen und begann den Hof zu fegen. Hierbei konnte ich mich etwas abreagieren. Normalerweise ging ich zum Karma-Yoga gern in die Küche, um Gemüse zu putzen. Aber das war an diesem Tag keine so gute Idee. Ich glaube, meine Finger sind mir heute noch dankbar, dass ich mich stattdessen für das Hof fegen entschieden habe.

Irgendwann war aber auch diese Arbeit geschafft. Der Hof war blitzeblank, und sogar der Besen war unversehrt. Nun kam sie, die Zeit zur Reflektion. Mit einem Stift und mein Notizbuch bewaffnet, suchte mir ein sonniges Plätzchen im Garten des Anwesens. In einem großen Gartenstuhl machte ich es mir bequem, legte meine Sachen ab und hielt mein Gesicht in die Sonne. So saß ich da, vielleicht 5 – 6 Minuten, genoss die Wärme der Sonne und entspannte meinen Körper. Als plötzlich ein lautes Lachen aus mir heraus brach. Ich hatte mich „erwischt“! Und mir wurde schlagartig klar:

Ahimsa = Gewaltlosigkeit fängt erst einmal bei jedem selbst an. Auch bei mir.

Aber unser Lehrer hatte noch etwas Wichtiges gesagt … „sich nicht den Löwen zum Fraß vorwerfen“. Was hieß das in dieser Situation für mich? Die Antwort lies nicht lange auf sich warten: mich nicht dafür verurteilen oder schämen, dass ich wütend war, dass ich mich mit aller Kraft gegen die Reflektionsaufgabe gestellt hatte. Sondern anerkennen, dass auch das zu mir, zum Mensch sein, dazu gehört. Und daraus zu lernen. Das Gelernte im Hier und Jetzt anwenden, ohne an der Vergangenheit festzuhalten oder in die Zukunft zu eilen.